Derrick, die vollkommene Verkörperung von Durchschnittlichkeit, Phlegma und Beamtenkarriere (2025)

Die Siebziger waren ein komisches Jahrzehnt. Während die Arbeitslosigkeit im Gleichschritt mit Ölpreis, Inflation und Armut galoppierte, der Watergate-Skandal Richard Nixon stürzte und ein Doppelagent Willy Brandt sowie der RAF-Terror die Republik erschütterte und Flensburgs Verkehrskartei ihre Autofahrer - während das Land also politisch in recht trüber Stimmung war, tauchten es die drei damals verfügbaren TV-Kanäle zusehends in grellere Farben.

An einem nasskalten Sonntag betrat Stephan Derrick den Röhrenbildschirm in einem beigegrauen Trenchcoat, den er dann 24 Jahre nicht mehr auszog.

Es gab zwar „Monitor“, Autorenfilme, den „Tatort“. Am liebsten aber entkam das Publikum der Realität mit buntem Klamauk zwischen Pauker-Komödie, „Klimbim“ und Didi Hallervorden. So gesehen war der 20. Oktober 1974 um 20.15 Uhr ein bemerkenswerter Moment deutscher Fernsehgeschichte: An einem nasskalten Sonntag vor 50 Jahren betrat Stephan Derrick den Röhrenbildschirm, und zwar nicht im knallgelben Polyesterhemd, sondern in einem beigegrauen Trenchcoat, den er dann 24 Jahre nicht mehr auszog.

Von Japan bis Kuba, Derrick prägte das Bild der Deutschen

281 Episoden ermittelte der Oberinspektor Kapitalverbrechen im Münchner Speckgürtel. Bereits die Auftaktfolge „Waldweg“ sahen surreale 31 Millionen Zuschauer. Der Berliner Weltstar Wolfgang Kieling ging dort als Frauenmörder so brutal zu Werke, dass eine halbe dieser 60 TV-Minuten bis heute auf dem Index steht. Mit solchen Exzessen im Spießerparadies avancierte die Reihe zum Exportschlager. Von Holland über Japan bis Kuba prägte Derrick in gut 100 Ländern das Bild der Deutschen.

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Es war ein Gemälde, wie es nur Herbert Reinecker malen konnte. Bereits zuvor hatte der Drehbuchautor Ludwig Erhards nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit kriminalistischen Ablenkungsmanövern a la Edgar Wallace sediert, bevor „Der Kommissar“ Erik Ode ab 1969 ohne englische Romanvorlage auskam. Von dort nahm er fünf Jahre später Fritz Weppers Inspektor Harry Klein mit in Derricks Dezernat und ließ ihn fast 300 Stunden selten relevant zu Wort kommen, aber dekorativ ins Bild rücken.

Harry, hol schon mal den Wagen.

Stand sein Chef, Baujahr 1923, für preußische Solidität mit einer Prise Ironie, verkörperte der Assistent, Baujahr 1941, jugendlichen Schwung mit 3er-BMW. Wobei - wie Reinecker betonte - nie der vielzitierte Satz „Harry, hol schon mal den Wagen“ fiel. Eine populäre Mixtur aus Jung und Alt, modern und konservativ, viril und träge, also auf tradierte Art zeitgemäß. Denn so klassisch die Polizeiarbeit mit Fragen nach dem Alibi (“wo waren Sie gegen 22 Uhr?“) und dem Motiv (“Hatte er Feinde?“) vorwärts kroch, so fortschrittlich war der Spannungsaufbau.

Hilde Weissner, Horst Tappert und Fritz Wepper in einer Szene der ersten Folge „Waldweg“ (1974) der Fernsehkrimiserie „Derrick“. Foto: dpa

Bekamen Derricks Kollegen nämlich Anrufe im Kommissariat, wo sie der nächste Fall wohl hinführt, zeigten Regisseure wie Theodor Grätler (51 Folgen), Helmut Ashley (46) und Alfred Vohrer (28) erst lange den Tathergang. Nicht selten war der Mörder wie bei Peter Falks „Columbo“ den Zuschauern schon früh bekannt. Nicht selten auch betrat Derrick erst zur Halbzeit den Tatort, der oft dort lag, wo handelsübliche Krimis bis dato eher Opfer als Täter verortet hatten: im wohlständigen Bürgertum.

Derrick ist die vollkommene Verkörperung von Durchschnittlichkeit, Phlegma und Beamtenkarriere.

Der Trend, Leistungsträgern Schwerstkriminalität anzuhängen - er fand bei „Derrick“ seinen Ursprung. Den Trend, dass sie von Frauen überführt werden, weniger. Während Sigrid Göhler als Leutnant Arndt schon 1971 im DDR-„Polizeiruf“ ermittelte, dauerte es westlich der Mauer noch sieben Jahre, bis Renate Fröhlich der „SOKO 5113“ angehörte und Nicole Heesters erstmals an einen „Tatort“ durfte. Der überzeugte Single Stephan Derrick dagegen duldete bis zum Ende seiner Dienstzeit nur zwei Psychologinnen im Büro, von denen ihm eine (Johanna von Koczian) auch emotional näherkam. Ganze drei Folgen. Kein Wunder.

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„Wir konnten keine gute Schauspielerin halten, die 20 Jahre zur Verfügung steht, aber kaum etwas zu tun bekommt“, erklärte Herbert Reinecker Derricks Männergesellschaft. Obwohl Hobbyregisseur Horst Tappert selbst elf Fälle inszenieren durfte, gab es bis zum Finale am 16. Oktober 1998 aber auch keine Frau hinter der Kamera und bis auf seltene Ausnahmen allenfalls Täter- oder Opfergattinnen zu sehen. Gleich siebenmal zum Beispiel Evelyn Opela. Dass sie die Frau von Produzent Helmut Ringelmann war, würde die Compliance-Abteilung des ZDF heute vermutlich beanstanden.

Drehbuchautor Reinecker und Horst Tappert waren SS-Mitglieder

In Zeiten des Ost-West-Konflikts jedoch taugte es nicht mal zum Skandal, dass sowohl Reinecker als auch Tappert SS-Mitglieder waren. Ob sich die braune Vergangenheit der Verantwortlichen inhaltlich niederschlug, ist Gegenstand vieler Spekulationen, aber schwer belegbar. Tatsache bleibt, dass „Derrick“ verbissen um Neutralität bemüht war. Die Mordmotive spielten sich gern im Rahmen von Habgier, Eifersucht oder Veranlagungskriminalität ab, etwa beim einzigen Einsatz von Götz George anno 1978 als Gangsterboss.

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Wie fast alle Episoden kann man auch diese bei Youtube abrufen, wo sich so nicht nur ein Sittengemälde bundesdeutscher Befindlichkeiten voll leichter Mädchen entfaltet, die schon ein bisschen selber schuld sind am Sexualmord gut situierter Herren. Nach Les Humphries legendärer Fanfare sieht man dort auch das Who-is-who der Schauspielbranche. Von Klaus Maria Brandauer bis Inge Meysel, von Armin Müller-Stahl bis Iris Berben, von neunmal Gerd Baltus bis gefühlt fünfzigmal Karin Anselm sind alle, die im goldenen Fernsehzeitalter gut im Geschäft waren, auch bei „Derrick“ aufgetaucht.

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Dies sei die „vollkommene Verkörperung von Durchschnittlichkeit, Phlegma und Beamtenkarriere“, urteilte der Weltliterat Umberto Eco einst in seinem Essay „Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß“. Umso seltsamer, dass der 50. Geburtstag ziemlich unterm Radar läuft. Weder „Derrick“-Abend bei 3sat noch Tappert-Porträt im ZDF. Mit etwas Fantasie könnte man allenfalls eine Arte-Dokumentation über die eher genussfeindliche Religionsgemeinschaft der Amish am Sonntag um 20.15 Uhr als Referenz deuten. Der dunklen Schrankwandatmosphäre am Grünwalder Tatort kommt das auch vermutlich näher als jede Jubiläumssendung.

Quelle: KNA

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Author: Rueben Jacobs

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